Folgenden Text habe ich 2015  als Beitrag für ein dokumentarisches Buch über verschiedene Studienfahrten der Hochschule Hannover nach Volterra (Italien) geschrieben. Das Buch wurde zwar fertig gestellt aber leider bisher nicht veröffentlicht.

 

BeGleiter

Dies ist die Geschichte einer im besten Falle absurden und in jedem Fall brillanten Idee, die identitätsstiftend für uns geworden ist und schließlich sogar zur Völkerverständigung beigetragen hat.

Eigentlich wollte ich nur ein Tischchen aus Schilfrohr basteln, um darauf mein Glas abstellen zu können, wenn ich in der Hängematte liege.

Zwei Tabakspfeifen für Sebastian und mich sind auch schnell aus dem flexiblen Rohr gemacht, das an dem kleinen Bach am Rande von Peters Grundstück wächst. Man braucht nur ein kurzes, dickes Stück Rohr, das direkt unter einer der Scheidewände im Inneren des Gewächses abgesägt wurde. In diesen Pfeifenkopf bohrt man seitlich ein Loch, steckt ein längliches, dünnes Rohr als Mundstück hinein und fertig ist die Schilfpfeife. Bald bekommt auch die mittelgroße Espressokanne  einen neuen Griff aus Schilfrohr und es scheint so, als hätte dieses vielseitige Material nun schon alle seine Aufgaben erfüllt und das stimmt für heute auch.

Es wird Abend, die Villa Grande bleibt gelassen, wie sie es bereits seit hunderten von Jahren tut und wir nehmen uns ein Beispiel daran. Jeder Tag hier ist ein rauschendes Fest grellen Lärms und lauter Kunst aber die eherne Ruhe dieses Ortes durchdringt trotzdem alles und nimmt von jedem auf seine ganz persönliche Weise Besitz.

Zwei Uhr nachts. Wir sitzen an dem massiven Küchentisch mit der langen, schweren, rechteckigen Marmortischplatte, spielen Karten und rauchen, um uns gegen die Alabastermücken zu wehren.

Plötzlich kreist aber ein größeres Ungetüm durch den Raum.

Wir starren es fasziniert an und es lockt uns ganz unwiderstehlich zu sich. Alles, was vorher war, scheint von diesem süßen Funkeln ausgelöscht und vergessen, als hätte es jemals nur diesen Moment an diesem Ort gegeben. Das Ungetüm hat seine Beute gefunden und fängt uns alle auf einmal, denn es ist zu reizvoll, um sich ihm zu widersetzen.

Die Eigenart dieser Art von Ungeheuern ist, dass man sie weder sehen, noch berühren kann und auch ihre Herkunft ist höchst rätselhaft. Manche glauben, dass sie plötzlich und mit lautem Getöse entstehen, andere sind wiederum fest der Meinung, sie seien schon immer da gewesen und würden nur auf den richtigen Moment warten, um sich zu zeigen.

Ich weiß nicht, wer Recht hat und kann nur von diesem Ereignis berichten, so gut es meine Erinnerung vier Jahre später zulässt aber sicher ist, dass das Ungetüm plötzlich einfach in unserer Mitte war und wohl auch schon von diesem Moment an begonnen hat unser Handeln zu bestimmen und zu lenken. Zunächst hatte es nur von Sebastian, Marc-Philip und mir Besitz ergriffen, doch sollte es in den nächsten Tagen stetig wachsen und bald alle Bewohner der Villa Grande und selbst die Nachbarn in seinen Bann ziehen.

Die Nacht ist warm und friedlich und wir sind noch mächtig aufgekratzt aber irgendwann kehrt die Ruhe doch vollständig ein, als auch die Letzten in die Betten und Hängematten fallen und der Müdigkeit nachgeben. Es ist wichtig ein paar Stunden zu schlafen, denn morgen wird viel passieren.

Am nächsten Tag besorgen wir mehrere hundert Meter Frischhaltefolie und schneiden die größten Schilfrohre aus dem Hain, die wir finden können. Wir gehen zu zweit, für den Fall, dass das Wildschwein aufkreuzt. Zurück bei der Villa verbinden wir die Enden von drei Stangen mit einer Länge von jeweils gut zwei Metern miteinander zu einem Dreieck und verstreben die Stangenmitten durch drei kürzere Schilfrohre miteinander, so dass ein solider Rahmen entsteht, dessen Kanten wir für zusätzliche Stabilität noch mit weiteren Schilfrohren verstärken. An die Unterseite dieser Konstruktion bauen wir ein Gestell mit einer Haltestange aus einem Kunststoffrohr, das wir in den Tiefen von Peters Werkzeugschuppen gefunden haben. Danach umwickeln wir den dreieckigen Rahmen mit Frischhaltefolie, wobei wir längst schon nicht mehr nur zu dritt am Werk sind und als der fertig bespannte Rahmen seine Kriegsbemalung erhalten soll, hilft schließlich die ganze Gruppe begeistert mit.

Jetzt hat das Ungetüm uns alle und wir folgen seinen Wünschen euphorisch, willenlos. Es schickt uns mit der Konstruktion den Berg hinauf. Von der Villa aus müssen wir aussehen wie Ameisen, die ihrer Königin eine erlegte Motte bringen. In diesem Fall, haben wir aber stattdessen die Motte auf Geheiß der Königin zum Leben erweckt und tragen sie auf einen Berg, damit sie ihre Flügel ausbreiten und sich in die Lüfte erheben kann.

Der Aufstieg ist steil und der Wind zerrt bereits an unserem stummen Begleiter aber nach einer halben Stunde sind wir oben und Marc-Philip macht sich bereit. Zwei Mann stützen die Konstruktion, als er losläuft, immer schneller wird und die Haltestange auch dann noch fest in den Händen hält, als Sebastian und ich die Tragflächen schon losgelassen haben und der Gleiter abhebt.

Er schwingt sich empor, und auch wenn der Flug nur kurz und nicht sehr hoch ist, gibt es da diesen Augenblick, wo der Gleiter der Schwerkraft trotzt und tatsächlich fliegt.

Wir machen uns an den Abstieg und planen bereits, was an dem Flieger verbessert werden soll. Die Spannweite wollen wir auf vier Meter verdoppeln und am Heck starre Seiten- und Höhenruder anbringen. Dafür brauchen wir mehr Schilfrohr, viel Draht aus Peters Schuppen und Frischhaltefolie, die mittlerweile von der Gemeinschaftskasse bezahlt wird. Der Bau ist aufwendig aber er schreitet dank der vielen helfenden Hände schnell voran und nach ein paar Tagen ist die Motte zum prächtigen Rochen gewachsen.

Die aus Sizilien stammenden Nachbarn haben derweil unsere ganze, etwa zwanzigköpfige Gruppe zum traditionellen Pizzaessen bei sich zu Hause eingeladen und der Flieger soll mit. Sie haben unseren Flug auf dem Berg gesehen und uns angeboten, dass wir diesmal von dem steil abfallenden Feld vor ihrem Haus starten können. Wir nehmen die Einladung sehr gerne an und putzen uns heraus, bevor wir uns abends auf den Weg zu Angelos Anwesen machen. Den mittlerweile doppelt so großen Flieger tragen wir dabei hochkant, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten.

Als wir angekommen sind, beziehen wir mit unserem Rochen Aufstellung. Wir haben unterdessen unsere Taktik verbessert und starten jetzt mit Marc-Philip als Pilot und vier Helfern: Sebastian und Mariano stabilisieren die Tragflächen und Jasper das Heck. Ich renne vorne weg und ziehe den Flieger an einem Seil hinter mir her, dicht gefolgt von  Marc-Philip, der die Haltestange umklammert. Wir rasen den Berg hinab, den Gegenwind im Gesicht und der Flieger zieht kräftig nach oben. Sebastian, Mariano und Jasper lassen los und schließlich löse auch ich den Griff um das Seil. Jetzt hängt nur noch Marc-Philip an der Haltestange des Fliegers. Auf diesen Moment haben wir die letzten Tage hingearbeitet.

Das Ungetüm ist zufrieden und lässt von uns ab, es verschwindet wie es gekommen ist zurück in die Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht, in der wir mit den Italienern zusammen essen, lachen und Türme aus leeren Getränkedosen um die Wette bauen.

Spät gehen wir den Feldweg zu Peters Haus zurück und tragen den von der Landung etwas lädierten Flieger wie eine Trophäe vor uns her.

Unsere gemeinsame Zeit in Volterra neigt sich dem Ende zu aber wir wissen, dass wir wiederkommen werden. Wir haben uns vor diesen zwei Wochen nicht gekannt aber wir gehen als Freunde und so werden wir auch zurückkehren.

Den Flieger haben wir übrigens alle zusammen demontiert. Wenn ich heute daran zurückdenke begreife ich noch immer zwei Dinge nicht und zwar erstens, warum Peter so eine absurde Zahl von unterschiedlichen Äxten, Beilen, Sicheln und sonstigem martialischem Werkgerät in allen möglichen Größen und Formen in seinem Schuppen aufbewahrt, obwohl er sich selbst wohl höchst selten bis gar nicht handwerklich mit ihnen betätigt und zweitens, wie wir inmitten von zwanzig fliegenden Klingen, Fetzen von Frischhaltefolie und splitterndem Schilfrohr sämtliche Körperteile behalten und sogar vollkommen unverletzt aus dieser nur fünfminütigen Zerstörungsorgie hervorgehen konnten, mit dem Flieger fein säuberlich nach Draht, Schilfrohrsplittern, der Kunststoffhaltestange und mehr als einem Kilometer Frischhaltefolie getrennt.

Heute schwebt der Flieger als Modell in Peters Atelier in Hannover. Er hat ihn als Geburtstagsgeschenk von uns bekommen, aber da war ich selbst schon wieder in der Luft und zwar auf dem Weg nach Indien zu neuen Abenteuern mit freundlicher Unterstützung der Hochschule Hannover.